Die Mitschnitte der Ringvorlesung „Die unheile Welt. Zerstörung und Erneuerung im Märchen“ sind bis Ende des Sommersemesters verfügbar

Termin: 18.10.2023 - 30.09.2024
Veranstaltungsort: TU Dresden, Wiener Straße 48 (Fakultät Sprach-, Literatur- und Kulturwissenschaften), Raum 0.04

Organisation: Dr. Juliane Rehnolt, Dr. Susanne Hose

Mitschnitte der Vorträge: www.youtube.com (Playlist im offiziellen Youtube-Kanal des Sorbischen Instituts)

Sammelband: Die einzelnen Beiträge werden aktuell für eine Veröffentlichung in einem Sammelband vorbereitet.

Die Welt des Märchens ist bestimmt von sozialen und diskursiven Ordnungen. Diese werden gestört und müssen dann mehr oder minder mühsam wiederhergestellt werden. Überhaupt bedingen sich Zerstörung und Erneuerung im populären Erzählen und seinen Medien gegenseitig. So erwächst aus den Körperteilen erschlagener Götter oder Riesen das Universum, aus den Überresten Getöteter entwickeln sich hilfreiche Pflanzen oder Vögel, zerstückelte Opfer werden wieder zusammengesetzt und mithilfe magischer Gegenstände neu zum Leben erweckt, Menschen in Tiergestalt finden Erlösung, nachdem man ihnen Gewalt angetan hat. Als Sinnbild für den Kreislauf von Schöpfung, Erhaltung, Zerstörung und Wiederbelebung widerspiegeln viele Erzählmotive im Märchen die Erfahrungen der Menschen mit einer sich periodisch selbst erneuernden Natur, aber auch ihren Wunsch nach Gesundung, Verjüngung und Überwindung des Todes.

Die Vorträge der Ringvorlesung nähern sich aus verschiedenen Disziplinen diesem Spannungsfeld. Sie befragen Märchentexte und andere Gattungen des populären Erzählens nach der Dialektik von Zerstörung und Erneuerung, ermitteln ihre Strukturen sowie Funktionsmechanismen und bieten kulturwissenschaftliche Deutungsansätze und Perspektiven.

„Dass gleich drei Beiträge den Namen Grimm im Titel tragen, kann für eine im deutschsprachigen Raum stattfindende Vorlesungsreihe über Märchen nicht weiter verwundern. Mit ihrem lebenslangen Interesse an den populären Erzählungen, ihren Aufzeichnungen und Editionen haben Wilhelm und Jacob Grimm eine Quellensorte erschlossen, die bis dahin kaum Beachtung gefunden hatte. Mit ihren Ausgaben der „Kinder- und Hausmärchen“ (1812, 1822 und 1856) legten sie die Maßstäbe für die Zusammenstellung von Märchensammlungen und -büchern, die die „einfache Form“ des Märchens salonfähig machten. Die Kinder- und Hausmärchen reihen sich in die weltweit bekanntesten Schriften deutscher Literatur ein. Die in Kassel aufbewahrten Handexemplare der Brüder mit handschriftlichen Korrekturen, Ergänzungen und Verweisen gehören seit dem 17. Juni 2005 zum Weltdokumentenerbe der UNESCO. Auf der Grundlage ihres Werks – und damit inklusive der Ausgaben Deutsche[r] Sagen und der Deutschen Mythologie – entwickelte sich die interdisziplinär ausgerichtete, historische und vergleichende Erzählforschung. Die Deutsche Grammatik, die Deutschen Rechtsaltertümer und schließlich die Arbeiten am Deutschen Wörterbuch sind Basiswerke, die zur Reifung des Fachs Germanistik führten.“ [Einführungsvorlesung, Dr. Susanne Hose, 18. Oktober 2023]

Eine gemeinsame Veranstaltung des Instituts für Slavistik der TU Dresden und des Sorbischen Institut Bautzen, finanziert durch die Märchen-Stiftung Walter Kahn. 

Rahmendaten

Die öffentliche Ringvorlesung im Wintersemester 2023/24 fand jeweils mittwochs von 16.40-18.10 Uhr statt. Sie wurde zusätzlich im Livestream (außer 29.11.2023) übertragen. Die Mitschnitte wurden weitestgehend über den Youtube-Kanal des Sorbischen Instituts veröffentlicht (Direktlink via Vortragstitel in der Liste der Veranstaltungstermine).

Veranstaltungstermine

(Stand 15.9.23, Änderungen vorbehalten)

Eine Brücke zu fremden Kulturen hat auch der vielgelesene Radebeuler Autor Karl May geschlagen, indem er seine Leserinnen und Leser für Geschichte und Lebensweise ferner Länder, besonders orientalischer Länder und des sog. Wilden Westens, öffnete. May durchspielt „die Begegnung von Kulturen in allen ihren Konflikten und Chancen in abenteuerlichen bis märchenhaften Geschichten“, so Holger Kuße, Professor für slawische Sprachwissenschaft und Sprachgeschichte und Karl-May-Experte.

In so genannten Schreckmärchen fallen Kinder beziehungsweise junge Frauen schrecklichen Hexen, Unholden oder anderen menschenfressenden Bestien zum Opfer. In der sizilianischen „Geschichte von Ohimè“ begibt sich Maruzza freiwillig in die Hände eines Serienmörders, der bereits ihre beiden Schwestern getötet hat. Doch sie ist klug und mutig und hat in ihrer verstorbenen Mutter eine übernatürliche Helferin. , so dass sie Ohimè (was ‚oh weh, weh mir‘ bedeutet) überlistet und endlich überwindet. Alfred Messerli, der am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturforschung in Zürich zu den Schwerpunkten populäres Erzählen, Selbstzeugnisse und Geschichte des Lesens lehrt, widmet sich dem Thema “Zerstörung und Erneuerung” in einem Mädchenmörder-Märchen, das so blutrünstig wie spannend ist.

Märchen, Mythen, Sagen usw. sind alles andere als out. Im Gegenteil – sie nutzen das Angebot der neuen Medienvielfalt und äußern sich heute eben nicht nur als Geschichte von Mund zu Ohr oder als Vorlesestoff, sondern auch in Rollenspielen mit aufwendiger Maskierung, dem so genannten Cosplaying, in Computerspielen und Filmen samt Fan-Artikeln. In Anlehnung an ihre ausgezeichnete Masterarbeit über den Woiwoden der Walachei Vlad III. und den Mythos Dracula stellt Dr. Jenny Hagemann die Kristallisationsgeschichte einer allbekannten Horrorgestalt in Sagen, Literatur bis hin zum großen Kinofilm vor:

Durch jeden Film – und jedes andere Medium –, in dem bestimmte Vergangenheiten vergegenwärtigt werden, entsteht eine neue Erzählung, die zunächst gleichwertig neben anderen steht. Im Falle von „Dracula Untold“ von Gary Shore aus dem Jahr 2014 konzipieren die Filmschaffenden jedoch kein völlig neues Narrativ, auch wenn das titelgebende „Untold“ dies nahelegt. Stattdessen wurde bereits Vieles, was der Film verhandelt, in anderen Kontexten erzählt. Ein aussagekräftiges Zeugnis seiner Zeit ist Shores Interpretation vor allem, weil er bestehende Erzählungen der Geschichtswissenschaft über den historischen Vlad III. Draculěa ​mit Anleihen an populärkulturellen Vampirmythen​ verbindet und diese im Kontext des erstarkenden Superhelden-Kinos neu inszeniert. So wird aus Dracula, dem todbringenden Repräsentanten überkommener aristokratischer Herrschaftsansprüche, ein Beschützer des transsilvanischen Volkes. Aus dem promiskuitiven, triebgesteuerten Vampir wird ein pflichtbewusster Familienvater mit Frau und Kind, der sich und die Seinen gegen das expandierende osmanische Reich verteidigt. Der Vortrag ordnet diese Bilder in bestehende Erzähltraditionen ein und geht im Zuge dessen der Frage nach, wie sich das Element des Anderen verlagert, wenn sein ursprünglicher Träger, Dracula, Teil des Eigenen verbleibt.

  • 29. November (kein Livestream!), Prof. Dr. Hans-Jörg Uther, Niedersächsische Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, zusammen mit der Erzählerin Angelika Schreurs, Düsseldorf:
    Extreme Situationen: Märchen und Sagen als moralische Instanzen

„Winterzeit ist Märchenzeit – Historische Belege für das Erzählen von Abenteuergeschichte am wärmenden Feuer zur Winterzeit finden wir bereits in der höfischen Literatur. Auch Titel wie Shakespeares Schauspiel „The Winters tale“ oder Christoph Martin Wielands „Wintermärchen“ erhärten unsere Vorstellung vom Märchenerzählen an Winterabenden, auch wenn die Texte von Shakespeare und Wieland nicht direkt mit der Winterzeit zu tun haben. Und schließlich bestätigen alltagskulturgeschichtliche Forschungen, dass die für die kühle Jahreszeit vorgesehenen Handarbeiten im bäuerlichen Haushalt in Gemeinschaft erledigt wurden, nicht zuletzt, um Heiz- und Beleuchtungsmaterial zu sparen. Während man sich zur Ausbesserung von Werkzeug, Körben und Kleidung und natürlich zur Garnherstellung (zur sog. Spinnstube) traf, war Gelegenheit zum ausführlichen Ratschen und Tratschen und zum Erzählen. Erzähltalente bezwangen die tödliche Langeweile, die sich bei den Tagelöhnern, Soldaten und Landstreichern an langen Abenden einstellte. Von ihren Genossen hoch geehrt wurden sie mit Lebensmitteln und anderen Gaben beschenkt.“ [Zitiert aus der Einführung zur Ringvorlesung von Dr. Susanne Hose am 18.10.23.]

Ein Vortrag der besonderen Art

Begleitend zur Vorlesung des Göttinger Märchenforschers Hans-Jörg Uther wird die Düsseldorfer Erzählerin Angelika Schreurs Märchen erzählen. Für ihr überzeugendes erzählerisches Talent und ihre besondere Erzählsprache wurde Angelika Schreurs 2023 mit dem Wildweibchenpreis – einem Literaturpreis der Gemeinde Reichelsheim im Odenwald – geehrt. Ihre Geschichten konfrontieren die Zuhörer:innen mit Krisen im Alltag und zeigen uns Wege zu deren Überwindung.

Hans-Jörg Uther spricht zu extremen Situationen und den moralisch belehrenden bzw. didaktischen Funktionen von Märchen und Sagen. Am Beispiel der Stichworte Tod, Scheintod und Wiederbelebung, erörtert der Vortragende, inwiefern Zerstörungen die Wiederherstellung des jeweils ursprünglichen Zustands bedingen. Bestehen diesbezüglich phänomenologische Unterschiede zwischen Märchen, Sage und Schwank? Wer ist der Schädiger, wer der Geschädigte und welche Wege zur Erneuerung bieten Volkserzählungen an?Hans-Jörg Uther hat knapp 45 Jahre die Herausgabe der Enzyklopädie des Märchens begleitet und selbst zahlreiche Artikel für das 15-bändige Nachschlagewerk geschrieben. Der von ihm überarbeitete Märchentypenindex von Antti Aarne & Stith Thompson, sein Deutscher Märchenkatalog oder das Handbuch zu den Kinder- und Hausmärchen sind Grundlagenwerke der Märchenforschung.

Krieg ist auch ein Thema des lebensgeschichtlichen Erzählens und gehört daher zur Erzählkultur des Alltags. Dass Erinnerungserzählungen über zurückliegende Kriegserlebnisse und damit verbundene Ängste nicht nur Erwachsene, sondern auch Kinder betreffen, zeigt Dorota Sadowska, Literaturwissenschaftlerin am Institut für Germanistik der Universität Warschau. Sie stieß 2018 im Archiwum Akt Nowych in Warschau auf ein Konvolut von Zeichnungen polnischer Kinder aus dem Jahr 1946, überschrieben mit „Meine Kriegserinnerungen, der 2. Weltkrieg und die deutsche Besatzung in Polen“. Es sind zu Bildgeschichten geronnene teils traumatische Alltagserfahrungen, die Kinder in ihren naiv erzählenden Zeichnungen festgehalten haben.

In Epen, Heldensagen und Mythen zeigen sich Erinnerungen an vergangene Kriege, ebenso wie die Hoffnung auf dauerhaften Frieden. Sie gehören zum kulturellen Gedächtnis und äußern sich in mündlichen Erzählungen, Liedern, Flugblättern, in literarischen und bildlichen Darstellungen. Kristin Wardetzky, emeritierte Professorin der Hochschule für darstellende Künste Berlin, hat sich besonders mit der Ilias auseinandergesetzt und verweist darauf, dass damit ein zerstörerischer Krieg bereits am Anfang der europäischen Literaturentwicklung das zentrale Thema des Erzählens bildet. Rachsucht, Streit und unversöhnlicher Zorn sind die Motive, die den Trojanischen Krieg befeuern und letztlich zur Zerstörung einer Hochkultur führen.

Für den deutsch-jüdischen Dichter Paul Adler bildet (neben zahlreichen literarischen und geistesgeschichtlichen Einflüssen) die Erfahrung des Ersten Weltkriegs einen wichtigen lebensgeschichtlichen Hintergrund. Seinen Zeitgenossen gilt er als Vertreter einer neuen, weltverändernden Dichtung, in der er auch die unheilvollen Dimensionen alter und moderner Mythen verarbeitet. Adler lebte mit seiner Familie zwischen 1912 und 1933 in Hellerau bei Dresden. Die Literaturwissenschaftlerin Annette Teufel hat sich in ihrer Dissertation mit dem „‚un-verständliche[n]‘ Prophet[en]“ auseinandergesetzt.

Helmut Groschwitz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Beratungs- und Forschungsstelle Immaterielles Kulturerbe Bayern am Institut für Volkskunde. Er setzt sich diskursanalytisch mit Jacob Grimms Intensionen bei der Arbeit an der Deutschen Mythologie auseinandersetzen. Stand Grimms Begeisterung für die vorchristliche Mythologie eigentlich im Widerspruch zu seinem protestantischen Glauben?

Die Natur wird vom Menschen seit jeher ambivalent erfahren, einerseits als Grundlage des Lebens, andererseits als feindlich und zerstörerisch. Das spiegelt sich auch in der populären Überlieferung wider, wobei einige Erzählungen im Kontext des anthropogenen Klimawandels mit seiner Zunahme an Katastrophen altvertraut erscheinen. Den Psychotherapiewissenschaftler und Erzählforscher Bernd Rieken, Professor an der Sigmund-Freud-Privatuniversität, erinnert der populäre Umweltdiskurs der Gegenwart an den besonders für die Volkssagen ermittelten Kausalzusammenhang zwischen Frevel und Strafe. Wie in den Sagen existiere auch im Fall der globalen Erwärmung eine Verknüpfung zwischen der Untat und seinen Folgen. Rieken widmet sich bereits seit mehr als 20 Jahren kulturwissenschaftlichen Forschungen zu Naturkatastrophen wie Sturmfluten und Lawinenunglücken: „Nordsee ist Mordsee“ Sturmfluten und ihre Bedeutung für die Mentalitätsgeschichte der Friesen (2005), Schatten über Galltür? Gespräche mit Einheimischen über die Lawine von 1999. Ein Beitrag zur Katastrophenforschung (2010), Eco Anxiety – Die Angst vor dem Klimawandel. Psychotherapiewissenschaftliche und ethnologische Zugänge (2021).

Medieninformation zum Start der Ringvorlesung (vom 17. Oktober 2023).


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