Komplexität in den Flexionssystemen des Nieder- und Obersorbischen
Es ist bekannt, dass isolierte Sprachen, die in stabilen sozialen Kontexten an die nachfolgenden Sprechergeneration als Familiensprache weitergegeben, aber nur selten als Zweitsprache erworben werden, besonders komplexe Flexionssysteme tradieren. In derartigen soziolinguistischen Konstellationen ist flexivische Komplexität ein Maturitätsphänomen. Dies trifft auch auf die sorbischen Sprachen zu, die zwar in sehr engem Kontakt zum Deutschen stehen, in der Vergangenheit aber kaum als Zweitsprachen erworben wurden.
Die sorbischen Sprachen verfügen im slawischen Sprachvergleich über relativ komplexe Flexionssysteme, besonders was das flexivisch ausgedrückte Kategorieninventar anbelangt. Hier liegt auch der Schwerpunkt dieser Untersuchung: Beschrieben wird die Realisierung der Belebtheits- und Personalitätskategorie, des Numerus Dual, des Vokativs in der Nominalflexion sowie der synthetischen Präteritaltempora, des Supinums und Transgressivs bei den Verben. Dabei werden jeweils dialektale bzw. soziolinguistische und diachrone Aspekte berücksichtigt. Es geht allerdings nicht um die immer präzisere strukturalistische Beschreibung dieser Phänomene sprachlicher Variation, sondern um ihre Einordnung in allgemeine Präferenzen des Sprachwandels. In diesem Zusammenhang werden die Kontraste in der flexivischen Strukturbildung des Nieder- und Obersorbischen besonders herausgearbeitet. Es wird versucht, diese grammatischen Unterschiede der genetisch nahe verwandten Sprachen auf die Verschiedenheit ihrer soziolinguistischen Entwicklungsbedingungen zurückzuführen.
Es zeigt sich, dass man nicht behaupten kann, die eine sorbische Sprache sei durchgängig flexivisch komplexer als die andere. Allerdings ergibt sich eine andere diachron relevante Regelmäßigkeit: Das Flexionssystem des Obersorbischen ist nämlich in der Regel innovativer als dasjenige des Niedersorbischen. In beiden sorbischen Sprachen blieb das ererbte Kategoriensystem weitgehend erhalten. Wenn das Niedersorbische Vereinfachungen zuließ, bestanden sie aber fast immer im Schwund einzelner grammatischer Kategorien (z. B. des Vokativs oder der synthetischen Präteritaltempora). Das Obersorbische weist hingegen ein größeres Spektrum von Umstrukturierungen auf, das weniger den einfachen Abbau grammatischer Kategorien, dafür aber verschiedene Arten der Ausweitung flexivischer Uniformitäts- und Transparenzprinzipien umfasst (analogischen Wandel, Verstärkung der Implikativität paradigmatischer Strukturen, Schärfung kategorialer Kontraste u. a.).
Wenn das Flexionssystem des Niedersorbischen relativ archaisch ist und dasjenige des Obersorbischen trotz der Stabilität kategorialer Strukturen Belege für den Abbau besonders komplexer Kodierungsverhältnisse aufweist, ist es sehr wahrscheinlich, dass diese divergierenden sprachgeschichtlichen Entwicklungen tatsächlich auf unterschiedliche soziolinguistische Bedingungen für den Sprachgebrauch in der Nieder- und Oberlausitz zurückzuführen sind. In der Niederlausitz war die Verfolgung des Sorbischen über die Jahrhunderte besonders stark. Die schriftsprachliche Entwicklung wurde dadurch gehemmt; insbesondere kam es nicht zum interdialektalen Ausgleich, und die niedersorbische Schriftsprache konnte sich nur schwach gegenüber lokalen Dialekten behaupten. Unter den etwas liberaleren sprachpolitischen Bedingungen in der Oberlausitz konnte sich das Obersorbische zumindest innerhalb der evangelischen und katholischen Sprachgemeinschaft zu überregionalen Schriftsprachen entwickeln, die sich dann ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch gegenseitig beeinflussten, sich gegenüber den lokalen Dialekten emanzipierten und schließlich zu einer gesellschaftlich akzeptierten Schriftsprache vereinheitlicht werden konnten. Bei stabiler Weitergabe der sorbischen Sprachen innerhalb der Familien bis ins 20. Jahrhundert ergaben sich aus den unterschiedlichen sprachpolitischen Bedingungen ganz verschiedene Entwicklungspräferenzen, die sich heute in Kontrasten der flexionsmorphologischen Komplexität niedergeschlagen haben.
Die Abstimmung zwischen den Bedingungen einer soziolinguistischen Typologie (vgl. Trudgill) und den Präferenzen des innergrammatischen Wandels bezeichnet den Versuch, die bislang in der diachronen Linguistik eher strikte Trennung der Untersuchungsbereiche des grammatischen Wandels (historische Grammatik) und der historischen Soziolinguistik (Sprachgeschichte) zu überwinden und einen gemeinsamen, die „inneren“ und „äußeren“ Aspekte des Sprachwandels umfassenden Ansatz zu entwickeln.
Das vorgestellte Forschungsprojekt hat die Erstellung einer Monographie zum Ziel, die inzwischen weitgehend abgeschlossen ist. Sie soll im Jahr 2022 in der Reihe „Schriften des Sorbischen Instituts“ erscheinen.
Projektbeteiligte: Thomas Menzel